Mittwoch, 12. Januar 2011

kunoldstrasse 7







1947: in dieses und die beiden folgenden jahre habe ich keine erinnerung. heute befindet sich dort eine wiese. dort wo das haus stand wächst ein baum. die mutter erzählte gern, sie erzählte es wie einen witz, gerhard lag, wenn er schlief, mit einer hand am ohr, ich hielt den daumen unter die ohrmuschel, und klemmte sie mit den angewinkelten fingern in die zur faust gefalteten hand, und der anderen am penis. ich hielt mich an den kleinen eiern fest. die kammer, in der sie dies beobachtet haben will, ist winzig. oder klein, zwei betten standen auf den gestrichenen holzdielen, gescheuert und gebohnert. omas kittelschürze beschütze mich. durch das einzige fenster blicke ich auf die wand des nachbarhauses. der enge abgesperrte gang zwischen den häusern ist dunkel und feucht. unter der kammer sind kohlen gelagert. die kohlenmänner schütten die säcke durch die offene klappe. ich bekomme keine luft. der krankenwagen rast ins krankenhaus. grossvater steht vor meinem bett. er hat tränen in den augen. es geht mir besser. ich öffne die klappgitter der anderen betten. kinder klettern heraus. mein brot verstecke ich in die nachttischschublade. ich muss es essen. da ist es schon trocken und muffig. bruder herbert wird geboren. dann die schwester, lolli. zwei jahre später muss ich wieder ins krankenhaus. ich werde durch die gänge geschoben und verliere das licht am ende des tunnels. man schneidet mir den blindarm heraus. ich bin gezeichnet. ich werde eingeschult. nach dem zuckertütentag komme ich allein zur schule und suche meine verlorene klasse. ein mädchen steht still vor der frau, die ihr das haar richtet und am kleid zupft. am schultor werden haferflockenproben verteilt. ich schütte sie mir auf die hand und esse. später werde ich unter der bettdecke, versorgt mit einer schüssel trockener kakao-gezuckerter haferflocken, im licht der taschenlampe schmökern.

in dem gemieteten haus mit der nummer 7 in der kunoldstrasse wohnen wir bei den grosseltern. hinter dem eingang im flur an der rückwand steht der herd. wenn man die bodenklappe auf der rechten seite öffnet, kann man in den erdkeller hinabsteigen, in dem das sauerkrautfass steht, das grossmutter pflegte. rechterhand führen zwei stufen zur schlafkammer der grosseltern. grossvaters eifersüchtiger hund zwickte mich ins bein. in der guten stube auf der linken seite schlafen die eltern. dahinter liegt die kammer über den kohlen. auf dem dachboden war ich allein. hier gibt es eine unbewohnte kammer. an der wand hing eine handmühle. über der holzschublade, die noch spuren vom letzten mahlen trägt, ist ein vorratsgefäß aus weisser keramik, auf dem sich blau eine windmühle klein gemacht hat. hier oben herrscht bereits vergangenheit. das haus der grosseltern ist klein. es fügt sich nicht in die reihe. es ragt mit einer ecke hervor und verengt den bürgersteig. nach vorn zeigt es sich freundlich und unbedrängt. vor dem haus ist der hof gepflastert. der gemüsegarten legt sich längs der strasse bis zum bach. schräg führt der weg zur bleiche. rechts liegt ein schuppen. dort sind die hühner. die hühnerleiter lehnt dahinter. links unter dem grossen birnbaum steht ein pavillon. an heissen tagen gibt es dort limonade und manchmal rote grütze. auf der wiese sitzt ein dicker mann, der öfter zu besuch kommt. ich stelle mich vor ihn hin und pinkele ihn ans bein. vor dem hahn mit prächtigen federn und rotem kamm habe ich angst. ich bettele ihn an, mir nichts zu tuen. als die brombeeren reif sind, teilt mir der nachbarjunge die unreifen zu. er wohnt im haus gegenüber, auf der anderen seite des baches, der durch die häuser kurvt, mal über eine brücke zugang bietet oder zu umwegen zwingt. in dem haus daneben, aber diesseits des baches, das erzählte meine mutter mir, liegt totkrank ein mädchen im bett. und ihr trauriger dorftratsch berichtet weiter, auf dem fenstersims, das habe man gesehen, soll der totenvogel gesessen und gerufen haben. so sah ich immer wieder schaudernd nach oben zu dem fenster des hauses mit der runden ecke, die sich dem bach gegen die strömung zuwendet. oft werde ich nach feierabend an die hintertür der molkerei oder in die backstube geschickt, besorgungen zu machen. ich bin geübt im schwingen der vollen milchkanne, ohne etwas zu verschütten. eines tages passiert es, dass ich in der backstube plötzlich in einem blech käsekuchen stehe. ich schleiche mich unbemerkt davon, den teig unter den sohlen. die grosseltern bekommen einen neuen garten am rammelsberg. ich rücke ein stück weiter in die welt und will förster, dann aber seemann werden. nimm mich mit kapitän auf die reise.. trällere ich. im neuen garten taufe ich die indianerblume. ich nenne sie so, weil sie bunte streifen auf den fiedern hat. ich rieche am goldlack, an der vanilleblume. ich sehe grossmutter bei den pfingstrosen. ich bekomme taschengeld. an der bude an der ecke zur langenstrasse kaufe ich schneeweisses gewelltes gebäck aus gezuckertem eiweiss. ich trage den rest des unbekannten süssen naschwerks nach hause und werde geschimpft. ich habe etwas verbotenes gekauft. mein vater geht mit mir zur bude und gibt, unter schlimmen vorwürfen und dem verbot jemals wieder etwas an mich zu verkaufen, das zeug zurück.

mein grossvater ist ein schöner mann. er ist groß und schlank und man munkelt über seine herkunft, er entstamme dem techtelmechtel seiner mutter mit einem adligen. er arbeitete als eisendreher in der werkstatt der strassenbahn. der unfall an der drehbank ist schon einige zeit her. die weiße narbe am bein glänzt. er nimmt mich an den sonntagen mit in den park. er schreitet langsam und hat ab und zu einen schabernack zu treiben. die krähen verjagt er mit heia bo tschaia. er hätte auch einmal räuber vertrieben, sagt er, und macht es mir vor. er rief einige namen, wobei er sich nach hinten wandte, als erwarte er gleich verstärkung, obwohl da niemand ist. die spaziergänge mit ihm sind ein glück. als im bergpark ein motorradrennen stattfindet, sind die strassenränder mit strohballen gesäumt. der kraftstoff riecht süss. ich bekomme einen pez-spender mit micky maus kopf. an der bude am strassenbahndepot gibt es limonade, in der eine glaskugel im flaschenhals klickert. mein grossvater ist mit mir an der löwenburg auf einen hügel gestiegen. hier müssen die fahrer durch enge kurven. die im beiwagen lehnen sich weit hinaus. ich sitze neben ihm im laub zwischen hohen bäumen im schatten und blicke hinab

uns besuchen der bruder meiner mutter, seine frau und die beiden kinder, evi und christian. onkel hermann hat einen kanarienvogel. seine frau hat schwarze gelockte haare. tante lolli stammt aus schlesien. sie schneidert und putzt ihre kinder heraus. ich bekomme ein seppelhütchen und lederhose. sie ist gut gelaunt und bei stimme. hermann spitzt die lippen und versucht den kanarienvogel zum rollen zu bringen. sein feuchtes lippenpaar rückt ganz nah an das käfiggitter. hat er bubi auf dem finger hocken, schnäbelt dieser inbrünstig und gibt herman küsschen. bubi kann bubi sprechen und noch etwas anderes. besuche kamen sonntags. die stube ist geschmückt mit blumen aus dem garten. die löwenmäulchen sind allerliebst. ich klappe ihnen das maul auf. in sonntagskleidern klettern wir die hühnerleiter hinauf. kaum etwas geschah unbeobachtet unter den augen der nachbarn. die kleine schwester wird im kinderwagen über den hof geschoben. herbert passt auch noch rein. einer schiebt über die holperigen steine. ein stein neben einem anderen stein. jeder stein neben einem anderen stein. herausgewachsen und mit scharten und erde. staubig und an regentagen gewaschen und glänzend. aus der stube nach draussen zu dürfen, war nicht so schwierig.  opa war an ruhe und der zigarre gelegen. das gezwitscher der helleren kindersstimmen schwebt nach draussen. an sonntagen wurden auch ausflüge gemacht. wir steigen in die herkulesbahn und stehen eingetaucht in das durcheinander der vielen stimmen zwischen fremden leuten. die schaffnerin bimmelt ab und kontrolliert. durch das druseltal fahren wir zum herkules oder wir zweigen vor dem luisenhaus ab, wenn wir zum bismarckturm hinaufsteigen sollen. an der endstation rutschen wir über einen speckigen findling oder hielten darauf rittlings für ein foto inne. heute liegt das steinere schweinchen ohne magie im wald. wahrscheinlich habe ich die guten geister vertrieben. ich werde es bald besuchen, um zu sehen, was ich tuen kann. ohne begeisterung ist die kindheit verloren. 

meist fiel irgendwann eine bude vom himmel und nahm auf der waldlichtung platz, bot limonade an und rast. jetzt sind sie unauffindbar. eine stand in den büschen am rande des alten zechenweges hinter dem herkules neben der hute.     damals querten noch die loren mit kohle über den weg. vollgeladen hingen sie am seil, kippten vor der strasse über dem silo zur seite, fuhren leer hinüber und kehrten übers karusell zurück. auf elfbuchen konnte mitgebrachter kaffee aufgebrüht werden. das essen bestellte vater. kartoffeln mit grauer sosse oder mit brauner sosse. die graue sosse klebte und war weckewerk. die braune sosse schäumte und war lungenhaschee. wenn die himbeeren reiften gingen wir mit den milchkannen zum blauen see, wo busch an busch stand. es war dort an einem herrlichen sonnentag, als mir die geschichte von der verborgenen himmelsleiter wieder einfiel, die ich finden sollte und dann die stufen hinauf über die wolken hinaus in den himmel steigen. und das wollte ich. wir hatten damals noch keinen fernseher. wir durften gelegentlich in eine öffentliche fernsehstube zur märchenstunde gehen. mag sein, das ich einen zauber von dort mitgebracht hatte, der erst mitten in den himbeeren geschah, sodass mir eine leiter vor die augen kam. ich greife die holme der leiter und steige und steige. ich kenne die leiter. sie lehnt am grossen birnbaum. meine mutter ist ängstlich, wenn ich hinaufsteige. ich habe einen sonnenstich. bei einem ausflug im winter in den park war omi dabei. vaters mutter trug pelz. omi sank in den schnee und lag auf dem rücken. sie streckte ihre arme zur seite, zog sie, den schnee pflügend, zurück zum körper und hinterliess einen abdruck. dann sanken die kinder in den schnee und durften auch einen engel machen. der schnee war bald voller engel. omi heißt maria, oma heißt marie. omi war eine bürgerliche, oma diente vor ihrer heirat als magd. omis fuchs war buschiger als omas marder. omi war katholisch, oma evangelisch. bald war ich auch katholisch. getauft wurde ich zwei jahre nach meiner geburt, eine woche nach der geburt meines bruders. auch mutter wurde katholisch. wir besuchen omi. sie wohnt in einer wohnanlage an der heubnerstrasse. schüchtern folgen wir den eltern. huschen lautlos durch das treppenhaus bis zur richtigen etage. schliesslich öffnet sich eine tür. omi kocht kaffee und achtete darauf, das der kaffee ausgetrunken war. für die kinder kam jedesmal die keksdose mit den alten weihnachtsplätzchen hervor. omis wohnung war voller polster und deckchen.

nach und nach lernten wir omis verwandschaft kennen. für die komplette mischpoke bräuchte ich ein umfängliches ensemble  kleiner püppchen, um sie mir auf die bühne zu stellen. ich werde mich dann über sie beugen, wie sie sich einst über mich gebeugt haben. die kleidung bestimme ich. die tanten heissen: doris, änni, thekla, die onkel: fritz, ernst, burschi. omis mann, herberts vater trat nie auf. er wurde im krieg verschüttet. ich lernte ihn später kennen. er lebt in einer nervenheilanstalt. tante doris und onkel burschi sind vaters geschwister. tante thekla ist lang, hager. das gesicht ist gerötet. sie gehört zu onkel ernst und hat eine tochter. onkel ernst macht hoppe hoppe reiter. tante änni ist finanzbeamtin. onkel fritz ist lehrer. tante luise gehört zu oma. sie ist   die schwester meiner mutter und hat vier kinder. tante luise bringt frisches gehacktes mit und drängt darauf, den abwasch zu übernehmen, wenn dieser am ende einer feier ansteht. beide verwandschaften trafen selten zusammen. ein besuch mit omi nach marburg führt in eine wohnung, in der auf dem fensterbrett gläser mit erde aus gräbern stehen. bei oma hingen die wachsengel stumm im schlafzimmer. bei omi fing gott an zu plappern, verpflichtete zum kirchgang und steckte mir heiligenbildchen zu.